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Das Familienbild auf dem Klavier

Vor meinem Auge steht Pfarrer Jaques Hefti-Voegeli, in der Gaststube der Pension  Sunnahüsli, umständlich den Stuhl zurückschiebend, von der noch unangetasteten Festtafel auf, setzt sich, nach einem freundlichen Blick über alle die grauen Häupter seiner Anverwandten ans Klavier und öffnet energisch den Deckel über der Tastatur. Auf dem Klavier steht ein in dunkelbrauner Eiche gefasste Foto. Aus ihm blicken einige Gestalten ins Zimmer, keine fröhliche Gesellschaft.
Der Pfarrer wirft einen tröstenden Blick auf die dunkel gekleidete Gruppe auf dem Familienbild. Die massige Gestalt des kleinen Pfarrherrn füllt gut die Hälfte der breiten, schwarzen Klavierbank. Gewohnt vor einer kleinen Kirchengemeinde die Kirchenlieder anzustimmen greift er mit raumgreifenden Bewegungen energisch in die Tasten und intoniert mit mächtiger, froher Stimme. " Grosser Gott wir loben Dich."  Etwas zögerlich setzen alle Frauen ein und etwas schleppend folgen die wenigen Männerstimmen.
Tante Hanna sieht glückstrahlend zu ihm hin. So findet sie es schön. Sie fühlt sich fast wieder so geborgen und glücklich wie früher zuhause im geliebten Baltikum.

Mich fasziniert, wie das Bild, bei jedem angeschlagenen Akkord vibriert und beginnt in Richtung Fenster fortzuwandern, als wollte es den Raum verlassen.
Wundervoll riecht es doch in dieser grossen heimeligen Gaststube. Die alte verwitwete Tante Hanna und ihre zu diesem Anlass voraus mit ihrem Ehemann und der alten, treuen, lettischen Pfarreimagd Christine zugereiste jüngere Schwester und Pfarrfrau Ella Hefti-Voegeli, haben zusammen ein wundervolles Festmahl ausgedacht. Sie haben alle erdenklichen baltischen Köstlichkeiten gekocht, gebraten und gebacken. Auf der reich gedeckten Tafel stehen auf den blendend weissen, steif gestärkten leinenen Tischtüchern auf den zarten geklöppelten oder gehäkelten weissen Deckelchen, zur Feier Geburtstages, ihrer Schwägerin Lore Voegeli-Günther schon einige Körbchen mit goldbraun gebackenen Kümmelbrötchen, Laugenbrötchen und herrliche gefüllte Hefeteigkrapfen, nämlich Speckküchlein. Diese kommen in unserer Familie nur an ganz speziellen Festtagen auf den Tisch. Die Durchreiche zur Küche steht offen. Duftschwaden von Braten und Gemüse strömen in die Wohnstube. Anfangs September 1944 herrscht noch Krieg. Wie haben es die zwei fast achtzigjährigen Frauen, Grosstante Hanna und ihre jüngere Schwester Ella Hefti-Voegeli mit ihrer Magd nur  geschaffen, ein solches Festessen her zu zaubern. In der Küche rumort Christine mit Pfannen, Deckeln und Blechkellen.
Immer noch peitscht der Regen an die kleinen Fenster der Gaststube, es regnet ununterbrochen. Im Glarnerland und besonders in Braunwald hat es in meiner Erinnerung fast immer nur geregnet.

Tante Hanna hatte uns in Linthal abgeholt. Als wir mit der Standseilbahn bergwärts fuhren sah ich durch die beschlagenen Scheiben, auf denen dünne Regenrinnsale in Zickzacklinien ihren Weg nach unten suchten, im engen Talkessel talabwärts ein kleines Dorf Rüti. Das ist Rüti, von dort stammen wir Vögeli, sagte sie. Nur einen kurzen Augenblick waren die wenigen, eng zusammengerückten Holzhäuser längs der schmalen Hauptstrasse durch den dicht stehenden, steilen Wald hindurch sichtbar. Sie standen dort wie eine verängstigte Schafherde. Viele Runsen und alte Lawinenzüge führen von beiden Abhängen auf den schmalen grünen Talboden zu.

Das Dorf scheint von überall bedroht. Auf den umgebenden Weiden stehen nur vereinzelte, kleine Ställe und Scheunen. Die wild hellgrau schäumende Linth braust in einem schmalen Flussbett mitten durch das Dorf. Gleich am Rand des Dorfes, zwischen Rüti und Linthal zeigt sich uns ein erschreckender Anblick. Die Hauptstrasse und die Eisenbahnlinie nach Linthal sind mit Bergen von Bachgeschiebe, Felsblöcken und hunderten von Bäumen umgeben. Vor wenigen Wochen, am 24. August 1944 hat wieder einmal der berüchtigte Durnagelbach gewütet. Nicht umsonst hatte der Zug von Ziegelbrücke nach Linthal so viel Verspätung. Darum fuhr er vor Linthal so langsam über die in den letzten Tagen in Eile provisorisch durch die Schuttkegel errichtete Eisenbahnbrücke.
Während die Braunwaldbahn rumpelnd an ihrem Seil bergauf gezogen wurde und als wir auf dem gewundenen Weg zum Sunnahüsli aufstiegen, erzählte mir Tante Hanna weiter. Im ganzen Tal waren nach den Kriegszügen die Nahrungsmittel knapp geworden, dazu kam aber noch eine schreckliche Naturkatastrophe. 1815 und 1816 gab es keinen Sommer, es war viel zu kalt, es schneite gar im Juli. Kartoffeln und Weizen verschimmelten auf den Feldern und darum herrschte im Tal eine grosse Hungersnot. Zur Linderung der Not und aus Sympathie zu den Glarnern, die die Truppen des Generals Suworow auf seiner verzweifelten Flucht durch das Glarnerland so gut empfangen hatten, schickte der Zar von Russland der Regierung von Glarus angeblich einen Silberubel, für jeden Bauer oder Käser der bereit war nach Russland auszuwandern. Er brauchte junge erfahrene Leute die halfen die seit den Kriegszügen von Napoleon in Russland und im Baltikum danieder liegende Landwirtschaft wieder aufzubauen.
Als ältester Sohn einer Familie mit zwölf Kindern, von denen aber nur sieben das Kindesalter überlebten, das war in jener Zeit die bittere Regel, sah er keine Chance unter diesen Umständen in Rüti eine Familie zu gründen noch zu unterhalten, so entschloss sich Balthasar Voegeli im Frühling 1817 auszuwandern und wie andere im Ausland sein Glück zu versuchen.
Dieser junge tüchtige Käser fand bald in der Gegend von Riga eine gute Stelle auf einem landwirtschaftlichen Betrieb, wo sich bald sein Ruf ausbreitete dass  er wunderbare Käse herzustellen wisse, besonders berühmt war sein Glarner Schabziger, Grünkäse wie man ihn bei den Deutschbalten bald kennen und schätzen lernte. Ganz in der Nähe lag eines der vielen Rittergüter eines Barons einer weit verzweigten Familie. Er bot Balthasar das dem Rittergut Kroppenhof zugehörige Beigut Alt Kroppenhof zur Pacht an. Dieses liegt etwa 62 Kilometer ostsüdöstlich von Riga. Damit übernahm er den Landwirtschaftsbetrieb mit allen Gebäuden, der Fahrhabe, dem Vieh und die damals wahrscheinlich noch leibeigenen zugehörigen lettischen Bauersleute. Er brachte in wenigen Jahren das Gut zu grosser Blühte. Dabei half ihm seine junge, energische Frau Christina Ludwig, die er im November 1831 geheiratet hatte.

Ich sann in der warmen Stube vor mich hin, ob wohl auf dem Bild auf dem Klavier die Nachkommen unseres Ururgrossvater im Baltikum abgebildet wären. Da schreckte mich ein Knall aus meinen Träumereien.

Mit einem heftigen Stoss mit dem Schuh öffnet die Magd die Türe zur Gaststube, wo immer noch feierlich gesungen wurde. Energisch stellt sie eine grosse Schüssel dampfender, köstlich duftender Fleischsuppe mitten auf die grosse Tafel vor dem Kachelofen und ruft mit mürrischer, fast etwas respektloser Stimme etwas auf lettisch in die Runde. Ihre Herrin Tante Ella, steht auf und legt ihrem jungen Mann liebevoll ihre Hand auf die Schulter. Der schlägt noch einige letzte energische Akkorde. Der Bilderrahmen ist inzwischen zur Fensterseite hin gewandert, klappt durch die Erschütterungen der letzten Akkorde sein Stützfüsschen ein und stürzt mit Getöse hinab. Nur ich habe das bemerkt, ich eile zum Klavier, hebe das Bild auf und strecke es meiner geliebten alten Grosstante Hanna hin. Das ist schön von Dir, sagt sie und streichelt mir mit ihrer weichen warmen Hand liebevoll über den Kopf.

Von diesem Fest ist mir noch unser Extratisch für die Kinderschar in der Veranda in Erinnerungen geblieben. Zum Dessert wurde gar gebrannte Crème mit Schlagrahm serviert, soviel man wollte. Die liebe Magd Christine stellte zum Schluss mit verschmitztem Lächeln eine grosse Schüssel mit Schlagrahm alleine nur für uns Kinder auf den Tisch.
Es war September, aber bereits so kalt, dass der kleine Kanonenofen mit dicken Buchenscheitern gefüttert werden musste und verbreitete eine gemütliche Wärme. An der Wand darüber hing eine grosse mit einem üppigen Blumenstrauss bemalte Blechschale. Als wir Kinder in der Veranda herumtobten zitterte und schwang sie leicht an ihrem Nagel hin und her. Diese Blechschüssel, faszinierte mich, denn mitten drin entdeckte ich ein rundes Loch. Hat wohl jemand einmal einen Speer auf diese Schüssel geworfen? Ich wollte Tante Hanna heute fragen. Ich kam nicht mehr dazu.

Plötzlich brach die Sonne durch die düstere Wolkendecke und es wurde aufgebrochen. Als wir Kinder uns bei den Tanten verabschiedeten, flossen Tränen der Rührung. Da und dort wurden zerknitterte weisse mit feinen geklöppelten Rändern verzierte Nastüchlein aus den schwarzen Handtaschen oder aus versteckten Taschen in den Falten der schwarzen Röcke gezogen um die mit Tränen verschleierten Augen zu trocknen. Erneut verbreitete sich aus den sich öffnenden Taschen eine Duftwelle nach alten Tanten. Die Tanten legten schrecklich grossen Wert darauf von uns auf die Backe geküsst zu werden und selbst ihre widrigen feuchten Lippen auf unser Backen zu drücken. Je näher sie mir mit ihrem Atem kamen, je herzlicher sie mich umarmen wollten, umso ekliger drang der Geruch nach muffigen, alten Kleidern und Altfrauenparfum in meine Nase. Es gab weder bei der Begrüssung noch beim Abschied nehmen ein Entrinnen. Ich verzog mich hinter den Rücken meiner Mutter um nicht ein weiteres Mal von liebevollen Armen erfasst zu werden.
Die Deutschbalten sind unter sich ein sehr gefühlsvolles, herzliches, fast grenzenlos gastfreundliches Volk, so muss eben auch dies durchgemacht werden. Doch nach einer Weile war das alles ausgestanden und die ganze Verwandtschaft wanderte wie eine Prozession im herrlichen Sonnenschein zur Seilbahnstation.

Am 8. April 1960, sind wir wieder an einer besonderen Geburtstagsfeier im Sunnahüsli. Es sind nur wenige Gäste gekommen. Alle anderen Grosstanten und Grossonkeln sind bereits gestorben.
In der schönen Stube des Sunnahüsli sitzt Tante Hanna aufmerksam auf dem breiten Klavierstuhl, mit dem Rücken ans Klavier gelehnt und wartet mit gespannter, ernster Mine, auf die Mittagsnachrichten. Hinter ihr auf dem Klavier, steht wie eine Krone über ihrem Haupt, in seinem eichenen Rahmen das alte Familienfoto.

Das Festmahl ist auf ein Uhr vorgesehen, es rumort heftig in der Küche, herrliche Düfte streichen aus der Durchreiche in die Stube mit dem grossen geheizten Kachelofen. Die Tische sind wieder prächtig gedeckt. Nach dem obligaten Zeitzeichen um halb eins folgen die Nachrichten, das interessiert Tante Hanna überhaupt nicht, ungeduldig wartet sie, bis diese vorbei sind. Nun beginnt der Radiosprecher mit den Gratulationen. Tante Hanna ruft aufgeregt auf Lettisch nach ihrer Küchenhilfe Christine, sie muss das auch hören was nun kommt. Mit freundlicher Stimme verkündet der Sprecher.
"Heute feiert im hohen Alter von 95 Jahren bei bester geistiger und körperlicher Gesundheit in Braunwald in ihrer Pension Sunnahüsli Frau Johanna Amalia Radecki-Voegeli ihren Geburtstag. Sie betreibt ihre Pension noch immer selbst mit ihrer auch bereits dreiundneunzig Jahre zählenden treuen Hausangestellten Christine Bormann. Wir gratulieren von ganzem Herzen zu diesem grossen Festtag und wünschen für die kommenden Jahre alles Gute. Wir spielen der Jubilarin zur Feier ihres Wiegenfestes das gewünschte Lied, dargeboten von einem Männerchor".
Ein strahlendes Leuchten gleitet über das jetzt völlig entspannte Gesicht. Voller Stolz schaut sie sich um in ihrer kleinen Gästeschar, die vor ihr in der ganzen Stube versammelt sind. Ganz aufgeregt berichtet sie anschliessend, dass das Radio unbedingt den Radetzkymarsch spielen wollte, dabei sei das gar kein Verwandter von ihr und Marschmusik erinnere sie immer an den ersten Weltkrieg und die schreckliche Revolutionszeit in Riga. Sie habe darauf beharrt, genau dieses schöne russische Lied zu hören zu bekommen und zwar mit einem Männerchor, mit den schönen russischen Bassstimmen. Als im Baltikum geborene mit Schweizer Wurzeln versehene Person fühlte sie sich immer noch stark dem alten russischen Volk, ihren traditionellen Bräuchen und liebvoll dem letzten Zaren verbunden, obwohl sie im Baltikum untereinander Hochdeutsch gesprochen hatten. Natürlich konnten sie auch lettisch sprechen, sonst hätten sie sich in Riga ja nicht mit den zahlreichen Angestellten unterhalten können. Die Letten weigerten sich aber mit der ihr eher verhassten, kleinen aber mächtigen Herrscherschicht deutsch zu sprechen.

Punkt eins Uhr erscheint Christine laut schnaubend mit ihren dampfenden Schüsseln aus der Küche und tischt die Festmahlzeit auf. Nach dem Tod ihrer ehemaligen Meisterin, ist sie nun Hannas treue Magd. Trotz ihren 93 Jahren hat sie alle die Herrlichkeiten ganz alleine vorbereitet. Die "Gnä", wie sie auch ihre neue Herrin zu nennen pflegt, hat nichts in der Küche zu suchen. Die Standesunterschiede werden von beiden Frauen immer noch selbstverständlich respektiert.
Auch dieses Mal sind die herrlich duftenden baltischen Brötchen und die zarten mit Speck gefüllten Hefeteigküchlein auf dem makellos gedeckten Tisch in schönen geflochtenen Körbchen aufgestellt. Schon auf der ganzen Hinreise hatten wir gehofft, dass es wieder diese baltischen Spezialitäten geben würde.
Die Türe zur Küche blieb ein Spalt offen, dort hört man  Christine weiter laut vor sich hinschimpfen, wenn sie die heissen Pfannen und Schüsseln, natürlich immer ohne Topflappen mit blossen Händen herumschiebt und dann auf den Tisch bringt. Noch heute höre ich in meiner Erinnerung ihre leisen Schreie "...aua, aua, aua....".

Nach dem üppigen Festessen brechen alle zum obligaten Spaziergang auf. Christine hat sich knurrend in ihr Küchenreich zurückgezogen. Meine liebe alte Tante Hanna sitzt beim Klavier am Fenster in den grossen, gemütlichen knarrenden Korbstuhl den sie aus ihrem Strandhaus von Bilderlingshof bei Riga in die Schweiz gezügelt hat und ruht sich aus, sie mag als einzige nicht mit.
Ich bleibe bei ihr, denn ich will, dass mir Tante Hanna von dem Bild erzählt. Welches bist Du und welches sind Deine Schwestern, frage ich sie?
Gerne will ich Dir von diesen Menschen erzählen. Erwidert sie.
Meinen Grosseltern wurden sechs Kinder geschenkt. Unser Vater, Johann Balthasar und damit dein Urgrossvater war das vierte Kind und wurde 1838 geboren. Er heiratete 1864 Amalie Drescher, eine sehr energische, tüchtige, ehrgeizige aber eher grobe Frau, meine Mutter, die schwer zum feinfühligen Charakter unseres Vaters und uns Kindern passte. Johann Balthasar konnte noch vor dem Tod seines Vaters etwa 1864 das nahe Beigut Eichenhof zur Pacht übernehmen, das auch zum ausgedehnten Besitz der Barone gehörte. Das nahe Ritterhaus Kroppenhof, ein herrschaftliches, grosses Schloss wurde, wie viele andere auch, anlässlich des Bauernaufstandes von 1905 von den herumziehenden, wütenden Bauern abgebrannt.

Meiner Mutter Amalie lag besonders daran uns Kindern eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Wir besuchten nicht die lokale Volksschule, sondern wurden bis zur Konfirmation von eigenen Hauslehrern unterrichtet. Danach schickten sie uns zur weiteren Ausbildung in die höheren Schulen nach Riga.

Besonders im Winter wenn die Feldarbeit ruhte, entfaltete sich zwischen den Gütern ein reger Besuchsverkehr. Züge von Schlitten mit Pferdegespann zogen durch die weiten verschneiten Ebenen über Land oder auf den gefrorenen Flüssen von Gut zu Gut, zu herrschaftlichen Häusern in den nahen Städten. Abendgesellschaften, Feste und Bälle wurden organisiert um die heiratsfähigen Töchter und Söhne Standes gemäss in die gute Gesellschaft einzuführen. Oft blieben Gäste mehrere Tage, dafür wurden zur Unterbringung der Gäste ganze Stockwerke ummöbliert oder geräumt.

Wir Pächterkinder, nur von einem Ritter Beigut waren keiner adligen oder noblen Familie zugehörig, doch verkehrten bei uns fröhlichen jungen Frauen bald einige Söhne adliger Familien, denen wir als tüchtige, schöne, junge Frauen dennoch begehrenswert erschienen.
Zwar wurde im Baltikum streng auf die Zugehörigkeit zu einem Stande geachtet. Eine ernsthafte Verbindung mit einer Lettin oder einem Letten wäre für alle besseren Familien undenkbar gewesen.
Ein Adliger konnte sich allenfalls leisten, eine tüchtige bürgerliche Deutschbaltin heimzuführen, denn die Russischen und die alten Deutschen Adelsfamilien hatten dringend Blutauffrischung nötig. Viele junge Herren des Adels vertrottelten zusehends und wussten ihre Zeit nicht mehr anders zu vertreiben als auch alle Abendgesellschaften und Bälle in den gutbürgerlichen Häusern zu besuchen. Die heiratsfähigen Damen ihres eigenen Standes wollten diese Trottel nicht mehr akzeptieren. Nicht nur adelige Abstammung war den heiratsfähigen adeligen Damen wichtig sondern ein Stand gemäss gesicherter finanzieller Hintergrund.
Mutter Amalie war begeistert von den zwei jungen adligen Männern, die immer öfter in unserem Hause verkehrten.

Das Bild wurde im Sommer 1888 als Geburtstagsgeschenk zum Anlass des fünfzigsten Geburtstages unseres Vaters, deinem Urgrossvater Johann Balthasar Voegeli-Drescher aufgenommen. Von Riga wurde ein bedeutender Fotograf auf unser Gut bestellt. Der baute in der guten Stube seine Kulissen auf und stellte uns nach standesgemässen Regeln auf. Voller Stolz stand unsere Mutter Amalie im Hintergrund, stritt mit dem Fotografen über die Positionierung der einzelnen Personen, eilte zu uns Töchtern um den Faltenwurf der Kleider oder die Handstellungen der Töchter zu korrigieren und kämmte den drei jungen Burschen ein letztes Mal ihre widerspenstigen Haarschöpfe.
Dieser Moment musste festgehalten werden. Es sollte die grosse Überraschung für ihren Mann sein. Bereits waren viele Vorbereitungen getroffen worden. Mehr als zweihundert Gäste wurden erwartet. Fast das ganze Personal des Gutsbetriebes würden eingesetzt werden, jedoch nur die präsentierbaren. Für mehr als dreissig Knechte und Mägde waren von Amalie die Aufgaben genau verteilt. Im Nebenhaus waren alle Räume als Schlafzimmer für Gäste hergerichtet worden.

Familienbild

Das Personal wurde vorübergehend auf dem Heuboden in der Scheune einlogiert, es war ja Hochsommer. Amalie war eine sehr tüchtige Frau und dies Mal konnte sie ihren Erfolg vorzuführen. Alle diese prächtigen Kinder und die in die Familie eingeheirateten zwei adeligen Ehemänner war ihr Werk. In einem Punkt hatte sie sich heute nicht durchsetzen können. Das schwarze Schaf der Familie, meine jüngere Schwester, die widerspenstige Ella, hatte es gewagt sich der Mutter zu widersetzen und nicht in einem schwarzen Sammetkleid zum Fototermin zu erscheinen. Es sei schliesslich keine Abdankung und zu warmes Wetter für jenes Kleid, meinte sie schnippisch und hatte dem Vater zu lieb ihr schönstes weisses Sommerkleid mit den schönen Spitzenrändern angezogen, selbstbewusst den ihr passenden Platz gewählt und würdigte auch nach mehreren Aufforderungen die Mutter und den Fotografen mit keinem Blick. Nein, in die Kamera schaue sie nicht. Auch der Fotograf meinte am Ende besänftigend zur Mutter, dies gäbe eine schöne Balance zwischen der hellen und der dunklen Seite. Er konnte ja nicht ahnen, wie richtig er mit dieser Aussage lag.
Für Amalie war das erstrebenswerte Lebensziel unserer Familie erreicht. Sie hatte acht Kinder gross gezogen. Zwei Töchter waren mit adeligen Sprösslingen verheiratet und unsere nun adelige Nachkommenschaft meiner Eltern mit dem adligen Enkel Hans von Radecki auf meinen Knien bewiesen und deshalb ganz im Zentrum des Gruppenbildes festgehalten. Leider hat er alle schlechten Charakterzüge seines Vaters Arthur geerbt. Er war und blieb bis an sein Lebensende ein Tunichtgut.
Meine drei jüngeren Brüder, alle Standes gemäss mit drei Taufnamen versehen, waren jung und kräftig und als Nachfolger für Ritterliche Gutsbetriebe geeignet. Auf dem benachbarten Gutsbetrieb Alt Kroppenhof, wo der Glarner Auswanderer seine Karriere begonnen hatte sass nun ein Schwager von Johann Balthasar als Pächter. Ein zweiter Schwager übernahm später am schmalen aber wassereichen Flüsschen Lobe den Mühlenbetrieb des Gutes Alt Kroppenhof. Mit andern Worten, die Familie hatten die umliegenden Betriebe fest im Griff. Es bestand die berechtigte Hoffnung, dass auch die jungen Söhne weitere Güter der Adelsfamilie zur Pacht bekommen könnten.
Aber bald sollte es anders kommen, als sich das Amalie gewünscht hatte. Umso Bedeutungsvoller ist dieses Bild als Momentaufnahme eines Glückes das nie Realität war.

Wenige Jahre später begann sich die schon lange in der unterdrückten lettischen Bauernschaft schwelende revolutionäre Bewegung wie ein loderndes Buschfeuer auszubreiten. Die Standesunterschiede zwischen der besitzenden, herrschenden Schicht der Deutschbalten sowie der durch verschiedene Könige mit grossen Lehen versehenen adeligen Familien und andererseits der armen, unterdrückten, besitzlosen Schicht der lettischen Bauern wurden immer krasser erkennbar. Dies besonders seit die Leibeigenschaft durch den Zar anfangs des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr gelockert und trotz dem Widerstand der adeligen Güterbesitzer schliesslich ganz aufgehoben wurde. Es machte die Bauern nicht reicher stärkte aber ihr Selbstbewusstsein. Sie wurden immer zugänglicher für kommunistische Ideen, die nun auch die Russischen Ostseeprovinzen, das Baltikum erfassten.
Die Erträge der Rittergüter gingen zurück. Die adeligen Familien steigerten die Pachtzinsen um die Höhe ihrer Lebensunterhaltsbeiträge zu sichern. Die Lage für meinen Vater als Pächter wurde unerträglich. Nachdem alle Kinder, mit Ausnahme von Auguste zur Ausbildung in Riga weilten und bei Verwandten untergebracht waren, entschieden sich unsere Eltern schweren Herzens anfangs der Neunzigerjahre die Pacht aufzugeben und vorerst im Norden von Lettland an der Hauptroute der Postverbindung Estland nach Riga eine Poststation mit Gastwirtschaft zu übernehmen. Und als die revolutionäre Bewegung der landwirtschaftlichen Bevölkerung nun auch jenes Gebiet im Norden erfasste, zogen sie gegen Ende der Neunzigerjahre nach Riga. Der Entscheid fiel ihnen nicht schwer, denn das Umland von Riga wurde immer gefährlicher. Inzwischen hatten wir drei Töchter uns mit unseren Ehegatten alle in Riga niedergelassen. Meine drei Brüder verfolgten ihren beruflichen Werdegang ausserhalb Riga. Meine Eltern mieteten in Riga eine grosse Wohnung und betrieben, betreut von Auguste, bis 1910 eine Pension. Du siehst, das schöne Bild hielt wirklich nur einen kurzen Höhepunkt fest.

Hinter mir an der Wand, nicht umsonst an höchster Stelle, steht mein Mann Arthur von Radecki. Er begeisterte sich mehr für meine stolze, lebenslustige aber freche, ein Jahr jüngere Schwester Ella, im weissen Kleid. Einen Heiratsantrag, lehnte Ella mit einer Handbewegung ab, lachte ihn aus, erkannte die akute Gefahr und verreiste sofort auf eigene Faust für einige Monate nach Russland zu Verwandten. Dies brachte unsere Mutter Amalie fast um den Verstand. Ein Antrag eines adligen Sprosses, eine einmalige Chance für den Aufstieg der Familie in adlige Kreise, von einer ihrer Töchter lächelnd abzulehnen war unerhört. Sie bangte ernsthaft um den Ruf der ganzen Familie. So wurde ich als Opfer auserwählt diesen Arthur zu ehelichen. Ich war zu wenig stark und mein Vater war mir am Ende zu lieb und der Druck auf mich so gross, dass ich tief traurig einwilligte. Nach der Hochzeitsfeier am Abend nach dem Festessen packte mich ein unbändiges Grauen vor diesem Mann und ich floh mit meinem weissen Hochzeitskleid in den nahen herbstlichen Wald. Ich wusste wirklich nicht wo ich mich sonst hätte verstecken können. Meine Mutter stürzte mir sofort nach, fing mich im nahen Wald, prügelte mich mit ihren Fäusten und brachte mich direkt ins Schlafgemach zu meinem Bräutigam. Damit war mein Widerstand gebrochen. Arthur war ein schwächlicher, kranker, weicher Mann, der während unserer ganzen Ehe keinen Beitrag leistete, weder menschlich, gesellschaftlich noch finanziell. Im ersten Jahr wohnten wir bei den Eltern von Radecki, aber wir vertrugen uns schlecht. Als mein Sohn Hans zu Welt kam, zogen wir aus. Um meine Familie über Wasser zu halten, mietete ich im Sommer am Strand der Stadt Riga in Bilderlingshof, eine der vielen Sommervillen, und richtete eine Pension ein. Ich hatte bald viele treue Dauergäste aber auch viel Arbeit.

Ich hatte später noch mehrfach Fehlgeburten. Ich war schrecklich arm, da Arthur sich weigerte einen Beitrag an die Haushaltkosten zu leisten. Als darauf mein kleines Mädchen Irmgard zur Welt kam, hatte ich nicht genügend Geld um Holz für die Heizung der Wohnung in Riga zu kaufen. Arthur floh zu seinen Eltern. Ich war zu stolz meine eigenen Eltern oder Geschwister um Unterstützung zu Bitten. Niemand ahnte wie schlecht es uns ging. Da erkrankte mein Mädchen an einer schweren Lungenentzündung und starb.
Meinen Mann Arthur musste ich während dem ersten Weltkrieg und während der Revolution verstecken, er wäre als adliger umgebracht worden. Während dem Weltkrieg und den folgenden revolutionären Wirren und bis zum Tod meines Mannes machte ich mich im Bergengruenschen Siechenhaus in Riga nützlich. Zimmer konnte ich keine vermieten, die Wohnung in Riga war zu klein und zu kalt. Im Siechenhaus konnte ich quasi als guter Geist und rechte Hand der Directrice diese schreckliche Zeit unbeschadet und unverdächtig überstehen.
Aus dieser Zeit ist mir zur Erinnerung fast nur dieser Gegenstand geblieben. Diese mit wunderschönen Pfingstrosen bemalte Blechschale. Sie hing bei uns in der Stube über dem Buffet. Ich bekam sie von einer lieben Freundin zur Hochzeit geschenkt.
Es war während der schlimmsten Zeit der Revolution, als die verschiedensten schwer bewaffneten Banden sich einander im Stadtzentrum verfolgten und sich hitzige Schlachten lieferten. Besonders die Flintenweiber, so nannten wir die halbwüchsigen mit Gewehren und Pistolen bewaffneten Frauen die mit den Banden herumzogen, schossen auf alles was ihnen in die Quere kam. Wenn abends ein Fenster beleuchtet war, wurde auch dort hinein geschossen. Mein adeliger Mann hatte sich irgendwo in der Stadt versteckt. Mein Sohn Hans und mein kleiner Enkel George waren zu mir in meine Wohnung geflüchtet, da diese in einem sehr ärmlichen Quartier lag und ihnen darum sicherer schien. Aber auch hier war der Teufel los. Als wir eine Bande schiessend heranstürmen hörten, löschten wir rasch das Licht und stürzten uns unter den Stubentisch. Zu spät, sie hatten uns bemerkt und schossen durch das Fenster in unser Wohnzimmer und knapp über den Tisch in die Wand. Ein fingerdickes Geschoss steckte dann in dieser Blechschale.
Am Ende des Krieges waren meine drei Schwestern unter dramatischen Umständen in die Schweiz geflohen, das ist aber eine eigene Geschichte.

Nach dem Krieg erkrankte Arthur an Kehlkopfkrebs und ist 1923 jämmerlich gestorben.
Dann war ich endlich frei und fühlte mich wohl. Mit viel Erfolg betrieb ich darauf am Strand in einem gemieteten Sommerhaus eine Pension. Bald darauf konnte ich aus dem Ersparten zu diesem Zweck dort günstig ein Sommerhaus erwerben.

Immer wieder hatten mir meine Schwestern aus Braunwald geschrieben, ich solle zu ihnen kommen, doch mir gefiel es nun in Riga und ich wollte weder meine Selbständigkeit aufgeben, noch meinen geliebten Enkel verlassen. Doch versuchte ich über das Schweizer Konsulat wie meine Schwestern das Glarner Bürgerecht wieder zurück zu gewinnen. Das hatte ich durch meine Heirat verloren. Mir wurde aber vom Konsulat mitgeteilt, ich müsse erst in der Schweiz Wohnsitz nehmen, dann stehe mir dieses Recht zu. So entschied ich mich 1933, für einige Monate in die Schweiz nach Braunwald zurückzukehren. In dieser Zeit starb unsere geliebte jüngere Schwester Auguste. Als ich den Schweizerpass bekam, zog ich anfangs 1935 wieder nach meinem geliebten Riga, doch ich fand mich nicht mehr zurecht. Im Januar 1936 packte ich meine Sachen und zügelte schweren Herzens mit dem ganzen Hausrat endgültig nach Braunwald zu meiner einsamen, nun alleine in Braunwald wohnenden jüngeren Schwester Maria, die erfolgreich die Pension Sunnehüsli betrieb. Sie hatte gar in meiner Abwesenheit im Sommer 1935 aus ihrem Ersparten das Châlet Sunnahüsli mit einem Anbau um einige Zimmer vergrössert, damit wir beide unabhängig voneinander hier wohnen und sie noch genügend vermietbare Zimmer hatte.

Meine ein Jahr jüngere Schwester Ella, begegnete in Riga dem lebenslustigen, selbständigen Coiffeurmeister Emil Adolf Beck, den sie dann 1893 heiratete. Auch sie mietete, am Strand von Riga ein Sommerhaus und führte diese aus Freude als Pension. Dass sie immer nebenbei noch einen weiteren lieben Freund hatte, den Schatzingka Römling, wie sie ihn zärtlich nannte, der sie jeweils in der Pension besuchen kam, störte den toleranten Coiffeurmeister Beck überhaupt nicht. Auch er selbst trug den Kosenamen Schatzingka. Er sagte immer, Ella hat ein sehr weites Herz! Es war ihm aber kein langes Leben vergönnt. Er starb bereits 1912 an einem Krebsleiden.
Bis zum Tod unserer Mutter Amalie 1910, hatte die lettischstämmige Christine Bormann unseren Eltern in Riga als Magd gedient. Nun begab sie sich in Ellas Dienste. Sie liebten sich, sie stritten sich, beide hatten ein lebhaftes Temperament, doch Christine war der treuste und verlässlichste Mensch auf Erden. Nach dem Tod ihres Mannes wurde Ella Directrice in einem grossen Betrieb in Riga. Als 1918 die Revolutionswirren ihren Höhepunkt erreicht hatte wurde Ella als der Bourgeoisie verdächtigte Person von Revolutionären festgenommen und ins Stadtgefängnis geworfen. Darauf buckelte Christine einen Sack Kartoffeln, drängelte sich bis zum Gefängnistor vor, bestach damit die mit ihr bekannte Horde die das Gefängnis besetzt hielt und brachte Ella sicher wieder nach Hause, wo sie ein Versteck für sie vorbereitet hatte. Erst als die Revolutionäre von der Baltischen Landwehr zusammen mit den deutschen Soldaten überwältigt worden waren konnte sie sich wieder frei bewegen.

Hinten, an die kunstvolle Kulissensäule gestützt, steht die Drittgeborene, meine Schwester Marie mit ihrem adeligen Mann Georg Baron von Nolcken. Ein Baron kommt selten allein. So brachte mein Arthur seinen Freund Georg ins gastfreundliche Haus Voegeli. Mit Begeisterung wurde von unserer Mutter Amalie die Beziehung zwischen Marie und Georg aufgenommen. Marie liebte ihn wirklich und sie heirateten sobald das für Frauen anständige Heiratsmindestalter von 18 Jahren erreicht war. Seine Eltern lehnten die Verbindung eher ab, doch waren sie andererseits froh, den Spross ihrer Familie in guten, tüchtigen Händen zu wissen, denn es stellte sich kurz nach der Hochzeit zum Entsetzen der Familie Voegeli heraus, dass er insgeheim schon länger an einer ernsten Geisteskrankheit litt, Verfolgungswahn! Er verbrachte immer wieder Monate in Anstalten, so dass Marie kein schönes Eheleben führen konnte. Am Ende musste sie gar um ihr Leben fürchteten, denn er beharrte auf seiner Wahnidee, nur mit einem langen, scharfen Messer unter dem Kopfkissen schlafen zu können. Es war für alle eine Erlösung, als er 1904 in Riga in einer Klinik starb.

Auf dem Bild, rechts vor mir auf einem Stuhl sitzt unsere liebste, bravste und auch hübscheste Schwester, Augusta, oder "Gustchen" wie sie alle liebevoll nannten. Auf diesem Bild ist sie siebzehn jährig, sie hatte strahlende, hellgraue Augen und lange sanft gewellte aschblonde Haare. Da ihr von der strengen Mutter Amalie die Rolle zugedacht war, als ledig bleibende Tochter sie als Eltern im Alter in Riga zu pflegen, wurde sie von der Mutter vor allfälligen adligen Avancen verschont und darum auch nicht zur weiteren Ausbildung nach Riga geschickt.
Doch nach dem Tod der Mutter, fühlte sie sich erstmals frei.
Auguste war ein hübsches Mädchen. Bald lernte sie einen netten jungen Mann kennen, seine Familie fand Gustchen leider keine passende Partie. Dennoch erstand der junge Bräutigam in Ermes in der Nähe von Riga ein nettes Gütchen, wo sie nach der Trauung leben wollten. Kurz vor dem Hochzeitstermin fuhr Auguste noch dorthin um ihr Heim für ihr neues Zusammenleben schön einzurichten und blieb einige Tage dort. Dann kam sie mit dem Zug nach Riga zurück und geht vom Bahnhof zur Nikolaistrasse. Dort begegnet ihr ein Leichenzug in Richtung Friedhof. Die Leute im Leichenzug kommen ihr bekannt vor. Als sie fragt wer denn gestorben sei, ist die Auskunft niederschmetternd, es war ihr Verlobter, er war in ihrer Abwesenheit ganz plötzlich verstorben und man hatte ihr nicht einmal eine Nachricht gesandt. Sie war für Monate zerstört.

Eben setzt Tante Hanna an mir noch von ihren drei Brüdern zu erzählen, da öffnet sich plötzlich, knarrend die Türe der Veranda und ungestüm strömen die zurückkehrenden Spaziergänger herein und zerreissen unser besinnliches Zwiegespräch.

Vorbei ist es mit der Ruhe, Tante Hanna schaut mich etwas traurig an und meint, Du kommst ja sicher bald wieder zu mir auf Besuch, dann erzähle ich Dir gerne weiter. Nun musste sich wieder ihren vielen übrigen Geburtstagsgästen widmen. Dies sollte leider unser letztes Gespräch sein.

In der Veranda serviert uns die Küchenfee Christine ihre herrlichen Baltischen Backwaren mit wunderbarem Kaffee. Der Himmel ist strahlend blau geworden und die mit frischem Neuschnee gepuderten Glarner Bergspitzen leuchten in der Sonne. Ich sagte zu Tante Hanna begeistert, hier ist ein kleines Paradies.
Sie sah mich mit ihren grauen Augen etwas erstaunt an und meinte: Deine alten Tanten haben dies auch schon anders erlebt.
Wenn Du willst, kann ich Dir erzählen wie wir alle nach Braunwald kamen.

Nach der entsetzlichen Kriegs- und Revolutionszeit in Riga, bei der alle furchtbaren Hunger litten organisierte das Rote Kreuz 1919 einen Flüchtlingstransport in die Schweiz. Die verwitwete Tante Ella und die ledige Tante Gustchen meldeten sich zusammen mit unserem Vater Johann Balthasar sowie seinem jüngsten Bruder Paul Melchior Voegeli und seiner Frau. Ich blieb in Riga zurück um das wenige an Besitz der ganzen Sippe zu bewachen, das alles in meiner Wohnung versteckt war.
Nach einer abenteuerlichen mehrtägigen Fahrt durch das zerstörte Deutschland, wo sie unterwegs von Rotkreuzschwestern verpflegt wurden, kamen sie mit 85 anderen baltischen Flüchtlingen am 17. Juni 1919 in Basel an. Begeistert berichteten sie später, wie, jeder auf einer eigenen Matratze liegend, während der Fahrt durch die Bretter des Güterwagenbodens die Gleisschwellen vorbeirasen sahen und wie freundlich ihnen die Rotkreuzhelfer in Blechtellern wunderbare Suppe und Brot in die Wagen brachten. Solch gutes Essen hatten sie seit Monaten nicht mehr gehabt.
Nach fünf Tagen Quarantäne fuhren sie nach Zürich weiter. Hier stand Marie von Nolcken-Voegeli am Bahnhof bereit um sie abzuholen.

Die Heimatgemeinde Rüti war auf diese Rückkehr gar nicht vorbereitet. Wo sollten sie diese fremd aussehenden Flüchtlinge, die kurios und ärmlich gekleideten Russen unterbringen, die bei der Ankunft am Bahnhöflein Rüti mit ihren wenigem Gepäck von einer Schar von gaffenden Einwohnern beobachtet wurden.
Der Armenvogt wies ihnen eine zurzeit leer stehende Alphütte zu, das "Sackhüsli" mit etwa drei beheizbaren Räumen. Es war vor zwanzig Jahren das erste Alpschulhäuslein gewesen.
Dort zogen nun Ende Juni 1919, die zwei Witwen Ella Beck-Voegeli und Marie von Nolcken-Voegeli, sowie die ledige Auguste Voegeli und ihr bereits siebzig Jahre alte Vater Johannes Balthasar Voegeli-Drescher ein.
Da zeigte sich in kurzer Zeit wie tüchtig und unerschrocken diese drei Frauen waren.
Die Hütte wurde ausgemistet, mit Kisten provisorische Möbel erstellt und die Matratzensäcke der alten Prischen der Sennen mit wunderbarem frischem Heu gefüllt. In der alten Sennenküche wurden als erstes der Kochherd und der Backofen funktionstüchtig gemacht. Wenige Tage später errichteten sie mit einem benachbarten Bauern vor der Hütte für die Sommersaison ein grosses Vordach und einen grossen Tisch mit Holzbänken.
An schönen Tagen wurde Gebacken und Gekocht und sie verstanden auch die frischen Kaffeebohnen so zu rösten, dass den vorbeispazierenden Gästen wunderbare Gerüche in die Nase stiegen und sich der Duft sich in der Umgebung ausbreite. In wenigen Wochen war die neue bescheidene Gaststätte wo herrlicher Kaffe und köstlichste baltische Spezialitäten angeboten wurden im ganzen Kanton bekannt.
Die Strapazen des zweiten strengen Winters überlebte der erst dreiundsiebzig Jahre alte Vater nicht mehr. Er starb am 12.02.1921.
Auch im Winter boten sie ihre Baltischen Spezialitäten an, dabei wurde es mit den vielen Gästen in der kleinen Küche sehr eng. Aber die Tradition mit der alten eingefleischten baltischen Gastfreundschaft schuf eine derart gute Stimmung unter den Gästen, dass am Ende auch im Winter unter dem Vordach serviert werden musste.

Nun wieder zurück zu den drei alten Tanten in Braunwald.
Inzwischen stellten sich im "Kaffeestübli", wie sie ihr "Sackhüsli" nun nannten, bei den fröhlichen Wirtinnen immer mehr Stammgäste ein. Einer, ein ganz junger Pfarrer, Johann Jakob Hefti aus Schwanden stieg jeden freien Tag nach Braunwald hinauf um nach dem Kaffee mit den lustigen, liebenswürdigen Gastgeberinnen und den Gästen alte Studentenlieder zu singen.
Das Geschäft mit der Alpwirtschaft lief so gut und die Frauen waren so sparsam, dass sie bereits im November 1924 von einem Nachbarn ein Stück Land erwerben konnten. Dort wurde im darauf folgenden Jahr die Pension Sunnahüsli gebaut.
Der junge Pfarrer verliebte sich sterblich in die rüstige fast dreissig Jahre ältere verwitwete Ella Beck-Voegeli. Nach wenigen Jahren, am 24.April 1927 wurde geheiratet. Sie folgte ihm als Pfarrersfrau mit ihrer treuen Magd Christine als Helferin.

Eigentlich wollte mir Tante Hanna noch mehr vom Sunnahüsli erzählen, doch nun ging die Sonne unter und wir verabschiedeten uns von der Jubilarin, die uns von der Terrasse aus winkte, bis wir im Wald verschwanden. Es war das letzte Mal, dass wir sie im Sunnehüsli besuchten. Tante Hanna wurde 99 Jahre alt und die treue lettische Magd, die am Ende ihres langen Lebens noch Tante Hanna gedient hatte, zog darauf ins Altersheim von Braunwald. Man bediente sie, das hatte sie noch nie erlebt. Als sie als älteste Bewohnerin des Glarnerlandes am 104. Geburtstag in einer Pferdekutsche spazieren geführt wurde, konnte sie die Welt nicht mehr verstehen. Solch eine Ehre für eine Frau die nur Lettisch sprechen konnte.
 
Nun sitze ich hier vor meinen staubigen Dokumenten. Wer sind alles diese Personen in den zerfledderten Fotoalben. Diese sollten nun mit mir sprechen können. So viel habe ich noch nicht herausgefunden. Wo genau war eigentlich unser Stammhaus in Rüti. Wie waren die Brüder von Tante Hanna und wo überall war eigentlich unser Onkel Conny gewesen, er der immer dann auftauchte, wenn man ihn brauchte. Doch vieles von den Lebenslaufen der drei Brüder, bleibt mir weiterhin verborgen, es sei denn ich vertiefe mich weiter in alle diese Akten.