Das Glück der Amalie Voegeli
Als Amalie die schwere Türe ihres Pachtgutes Eichenhof im Baltikum öffnete und auf das steinerne Podest der breiten Zugangstreppe trat, blendete sie die aufgehende Sonne. Es war Montag, der 18. Juni 1888, sechs Uhr morgens. Sie stand immer früh auf, eine der ersten, mit Ausnahme der Melkknechte. Die Pferdeknechte hatten die leichte Kutsche für die Fahrt ihres Mannes nach Mitau bereitzumachen. Es herrschte grosse Aufregung, denn das Fest für seinen fünfzigsten Geburtstag am 28. Juni 1888 musste vorbereitet werden. Für sie war nur perfekt gut genug. Es war ihr recht, heute den Mann für einige Tage zu verabschieden, so hatte sie freie Hand, sein Jubiläum zu gestalten. Sie ärgerte sich. Trotz der klaren Anweisungen, die sie gestern früh dem Oberstallmeister gegeben hatte, war das Nebenhaus für die Bediensteten noch nicht geräumt. Dort mussten einige der Gäste untergebracht werden. Auch die provisorischen Schlaflager für das Gesinde auf dem Heuboden in der grossen Scheune waren noch nicht bereit. Gestern hatte sie vierzig Leinensäcke abgegeben, um diese mit Heu zu stopfen. Aber nichts war passiert.
Bereits stand die Sonne über dem nahen Wald. Das Gesinde schlich aus dem Nebenhaus und zog lustlos an die Arbeit. Das Frühstück war von ihr vor einer Stunde in der Gesindeküche ausgegeben worden und hätte längst beendet sein sollen. Ein dunkler Schatten lag auf ihrer Stimmung, es schien, als leisteten alle Widerstand gegen ihre Anweisungen.
Sie trat schwerfällig eine Treppenstufe hinunter. Dick war sie geworden die letzten Jahre. Selbst das Hinuntergehen machte ihr Mühe. Sie dachte an ihren lieben Schwiegervater Balthasar. Wie freundlich hatte er sie als Braut von Johann im Gut Alt Kroppenhof empfangen. Das erste Mal, als sie ihren Verlobten an den Hausball begleitete, rückten die Alten mit allen Schätzen aus dem Kamin und aus der Speisekammer auf. Balthasar nahm sich Zeit, um sie durch den ganzen Gutshof zu führen. Er zeigte, was in den zwanzig Jahren, seit er die Pacht angetreten hatte, erreicht worden war. Es kam ihr vor, als wolle er zeigen, was er von ihr als künftige Gutspächterfrau seines Sohnes erwarte.
Es fiel ihr auf, wie er seinen noch nicht lange aus der Leibeigenschaft entlassenen Knechten und Mägden Vorschläge machte, sie mit freundlichen Worten zurechtwies oder begeistert lobte. Einen Knecht rief er heran, den er ihr besonders vorstellte. Das sei jener, der letztes Jahr den besten Grünkäse auf dem Hof produziert habe. Es gäbe alljährlich einen Wettbewerb, jeder Melker dürfe zusammen mit dem Käser einige Laibe im Käsekeller selbst pflegen. Der Knecht strahlte den Meister an, dankte ihm auf Lettisch und ging an seine Arbeit.
Sie wunderte sich, wie ehrfürchtig, aber ganz ohne Scheu das Gesinde seinem Meister begegnete. Es verehrte ihn mehr als den Popen der orthodoxen Kirche. Man spürte, wie er seine Bediensteten liebte. Man sagte ihr, dass er als Lutheraner gar dafür eingestanden sei, dass neben dem Hofgelände ein orthodoxes Gebetshaus errichtet wurde. Dass der Pope, der nur Lettisch und Russisch sprach, die Leute gegen die Herren aufwiegeln täte, glaubte er nicht. Aber keiner der lutherischen Deutschbalten hätte je einen Schritt über die Schwelle jener verachteten Kapelle gemacht. Er erklärte ihr, dass diese armen Leute ihn an die schrecklichen Zustände in seiner Heimat Glarus während der Hungersnot erinnerten. Hier bei ihm sollten sie es besser haben.
In einem Gehege graste ein fetter Stier. Als er ihn rief, kam das grimmige Tier dahergetrabt und streckte seinen Kopf über den Zaun. Er kraulte ihn zwischen den Hörnern, der Stier schnaubte genüsslich und stob wieder davon.
Dieser Stier hatte sie zusammengebracht. Johann als junger Bauer war im Jahr zuvor in Kokenhusen mit ihm bei der Viehschau angetreten und hatte triumphierend vor dem ganzen Marktvolk mit dem ersten Preis die Ehrenrunde gemacht. Da war es um sie geschehen. Den Burschen, der diesen prächtigen Stier besass und in Zaum halten konnte, musste sie haben. Nach dem Tanz auf dem Dorfplatz waren sie schon einig, besonders sie.
Ihr Bräutigam war ein zärtlicher Bursche, aber er sass lieber mit Gästen in der Stube und erzählte Geschichten, als auf dem Gut für Ordnung zu sorgen. Stundenlang stand er in der Werkstatt, wo er sein Tischlerhandwerk ausleben konnte. Mit Freude stellte er jungen Paaren des Gesindes für ihre Erstgeborenen Wiegelein her. Schon bald zweifelte sie an seiner Tüchtigkeit. Aber lieb war ihr Bräutigam, wie sein Vater.
Kurz nach der Hochzeit gab ihnen der Baron das benachbarte Gut Eichenhof zur Pacht. Es lag in Sichtdistanz zum Gut Alt Kroppenhof der Schwiegereltern. Dazwischen stand die kleine lutherische Kapelle, wo sie geheiratet hatten. Das ganze Gesinde des Gutes Alt Kroppenhof hatte sich vor der Kapelle versammelt, als sie frisch getraut als Johannes und Amalie Voegeli-Drescher heraustraten. Keinem der Letten wäre es eingefallen, nur einen Schritt in diese fremde Kirche zu tun. Körbe voll Blumen hatte der Schwiegervater den Leuten vorbereitet, damit sie den Weg bestreuen konnten. Nach der Trauung wurde das Paar im Foyer des nahen Ritterschlosses Kroppenhof vom Baron empfangen, um das Geschenk in Empfang zu nehmen, ein vergnügt quiekendes, kraftstrotzendes Ferkel. Ein Glücksschwein, dachte Amalie. Der Baron hatte zum jungen Mann eine besondere Zuneigung gefasst, denn er hatte ihm in den letzten Jahren mit grossem Geschick viele der alten, etwas maroden Möbel seiner Vorfahren geflickt und aufpoliert. Das vergass er ihm nicht.
Missmutig nahm Amalie die nächste Stufe. Auf Punkt sechs Uhr war die Abfahrtszeit für ihren Mann anberaumt worden. Die Uhr am Gutshaus zeigte schon zehn nach. Weder war die Kutsche in Sicht, noch der schnelle Rappe gerüstet. Nur mit dem besten Pferd und der modernsten Kutsche mit dem neuen Voegeli-Wappen auf der Türe sollte ihr Mann reisen. Ein adliger Herr könnte ihm ja unterwegs begegnen. Er musste einen tadellosen Eindruck erwecken. Was hier zählte, war die neue Kutsche, das schnelle Pferd und tadellose Kleidung.
Nach dem dritten mühsamen Schritt stand Amalie im Hof. Sie war zornig, denn sie spürte den zunehmenden Widerstand des Gesindes gegen ihre Befehle. Der russische Zar nahm immer mehr Einfluss auf das Baltikum, die russischen Ostseeprovinzen. Seine Anstrengungen um 1819, die Leibeigenschaft der baltischen Bauern aufzuheben, war von der adligen Herrenschicht, aber auch von der gesellschaftlich gehobenen Schicht der Deutschbalten mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden. Seit die Leibeigenschaft aufgehoben worden war, wurde der Umgang mit dem Personal immer schwieriger. Der Zar war überzeugt, wenn die Bauern freier seien, eigenes Einkommen und Vermögen schaffen könnten, würden sie fleissiger arbeiten. Aber die meisten Bauern wurden immer ärmer, da die Herren ihnen Geld liehen, um Land zu erwerben und Häuser zu bauen. Für viele Bauern war dies eine Schuldenfalle. Es war noch schlimmer als vorher, denn nun kümmerte sich niemand mehr um die zusehends verarmende Landbevölkerung.
Wie schwer es doch ist, dachte Amalie, sich beim Personal durchzusetzen. Ihr Mann war keine Hilfe. Er hatte zu viel Verständnis für die Leute. Die ganze Vorbereitung für sein Geburtstagsjubiläum allein zu bewältigen, war wirklich schwierig, so lieb sie ihn hatte. Schon wollte sie wütend eingreifen, da kam hinter den Stallungen der Pferdeknecht mit der Kutsche hervor, das Pferd angeschirrt am Zaum führend. Sie rief zum Speisezimmer hinauf ihrem Mann, der noch gemütlich frühstückte. Unter fadenscheinigen Gründen schickte sie ihn für eine Woche zu der befreundeten Familie von Günther, um ungestört das Fest vorzubereiten. Diese Familie stand ihnen nah, weil ihre ehemalige Hauslehrerin dort dem Herrn des Hauses, zu dem sie schon immer eine besondere Zuneigung hatte, tatkräftig eingesprungen war, als ihm seine geliebte junge Frau plötzlich starb und vier kleine Mädchen zurückliess. Es blieb aber nicht bei der Hilfe der Hauslehrerin, sie erklärte ihm ihre Liebe und wollte heiraten. Die Freundschaft zwischen den Männern war im Jagdverein entstanden und hatte sich zu einer engen Beziehung zwischen den zwei Familien entwickelt. Im Winter fanden hier und dort Hausfeste statt. Im Sommer besuchte man gemeinsam die nahe Ostsee, wo ein Sommerhaus gemietet wurde. Die vier Töchter von Günther und die drei jungen, wenig älteren Burschen Voegeli tollten zusammen am Strand und in den lichten Wäldern herum.
Vielleicht würde ihr Mann auch etwas länger bleiben als vorgesehen, das wäre Amalie recht. Sie musste ja sowieso alles selber befehlen. Auch die Erziehung der Kinder lag alleine in ihrer Hand. Er mischte sich ungern ein. Nur selten verlor er die Beherrschung. Doch als alle Töchter wieder einmal im Haus herumtobten und energisches Zurechtweisen nichts nützte, griff sie zur Peitsche und schlug auf die Kinder ein, wie öfter, bis wieder Ruhe herrschte. Doch einmal geschah etwas Ungeheures. Auguste, die jüngste mit den grossen unschuldigen, grauen Augen, eigentlich das liebste der Mädchen, begann hysterisch zu lachen und schrie: «Ich weiss, warum unsere Mutter früher Drescher hiess, weil sie uns immer verdrischt.»
Da zog auch der liebe Vater seinen Gurt aus den Hosenschlaufen und begann, auf die Kinder einzudreschen. Es wurde rasch still.
Amalie machte noch vier Schritte und öffnete die Türe des Cabriolets. Endlich hatte sich ihr Mann bequemt, herunterzukommen, sein Gepäck in die Kutsche zu werfen und mit einem Sprung einzusteigen. Er war immer noch ein schöner Mann. Der Bursche bestieg den Bock, knallte mit der Peitsche. Sie stoben davon. Es war viertel vor sieben.
Mühsam schritt sie zum Seitenflügel des Gutshofes und öffnete die zweiflügelige Saaltüre. In den vergangenen Jahren hatte sie hier schon viele rauschende Feste organisiert. Die Voegelis waren berühmt für ihre Gastfreundschaft. Natürlich war das für sie als baltendeutsch geborene Drescher immer etwas schwieriger, als für ihren schweizstämmigen Mann, denn sie war etwas unbeholfen, grob und laut. Sie schritt durch den grossen Saal, der die ganze Tiefe des Gutsgebäudes einnahm, und blickte nach Westen zum nahen Schloss Kroppenhof des Barons.
Vor einigen Jahren erschienen an einem Hausfest aus dem benachbarten Schloss die Söhne des Schlossherrn, zusammen mit adeligen Freunden. Da war Feuer im Dach. Die zweitälteste ihrer vier Töchter, die noch nicht zwanzigjährige Ella, hatte den Teufel im Leib und verdrehte mit ihrem Witz und Schalk den jungen Burschen den Kopf. Sie liess sie zappeln und wand sich mit Geschick aus allen Anbändelungsversuchen heraus. Arthur, der adelige Herr von Radecki, war entzückt von der charmanten Ella. Er warb einen ganzen Winter lang um ihre Gunst. Sie trieb ihr Spiel, neckte ihn, und er hielt das für Zuneigung. Als er einen Heiratsantrag machte, lachte sie ihn aus und verschwand für einige Monate zu einer verwandten Familie in Russland. Dies brachte Mutter Amalie fast um den Verstand. Ein Antrag eines adligen Sprosses, eine Chance für den Aufstieg der Familie in adlige Kreise, von einer ihrer Töchter lächelnd abzulehnen, war unerhört. Sie bangte um den Ruf der Familie. So wurde die älteste, ruhige Tochter Hanna als Opfer auserwählt, diesen Arthur zu ehelichen. Der Druck auf sie war so gross, dass sie tief traurig einwilligte. Amalie hatte gesiegt.
Hochzeiten sind ansteckend. Als Brautführer hatte Arthur seinen adeligen Freund, Baron von Nolcken, mitgebracht. Zur grossen Freude und Aufregung von Amalie verliebte sich Marie, die zweitjüngste Tochter, dabei in diesen adeligen Spross. Auch er entflammte. Das Problem war nur, Marie war noch nicht mal sechzehn. Eine solche Beziehung, so erwünscht sie für Amalie war, war schwierig in schicklichem Rahmen zu halten. Der Baron drängte auf eine Heirat, und Amalie bestand darauf, dass die Tochter zuerst lutherisch konfirmiert würde. Wenige Tage nach dem für bürgerliche Jungfrauen tolerierbaren Alter von 18 Jahren wurde geheiratet. Nun hatte sie auch noch eine Baronin von Nolcken in der Familie.
Jetzt kam der nächste Schritt. Dieser Erfolg musste am kommenden Fest ihrem ganzen Bekanntenkreis nicht nur vorgeführt, sondern auch auf einem Bild festhalten werden. Sie hatte am Tag der Abreise ihres Mannes auf punkt sieben Uhr den besten Fotografen von Riga auf den Gutshof befohlen. Dieses Bild ihres Glückes würde sie in zehn Tagen am grossen Fest stolz ihrem Mann überreichen. Der Saal war vorbereit, alle Stühle und Tische waren weggeräumt und hinten im Saal zusammengeschoben. Eben hörte sie eine Kutsche vorfahren, der Fotograf war sehr pünktlich.
Energisch schritt sie zur Türe, befahl den Knechten, dem Fotografen das in Kisten verpackte Material auszuladen, die gerollte Leinwand mit dem Bild des Hintergrundes sowie die Kulissen, die Säulen und Geländer aus bemaltem Papiermaché in den Saal zu bringen. Zwei Stunden dauerte es, bis alles bereitgestellt war und auch sie den Kulissenaufbau befürworten konnte. Nervös verschwand der Fotograf immer wieder unter dem schwarzen Tuch, das seinen grossen hölzernen Fotoapparat auf dem langbeinigen Holzstativ verhüllte. Gebannt schaute er auf die Mattscheibe, wo undeutlich die auf dem Kopf stehende Kulisse erschien. Er bewegte mit dem Rad den Schlitten mit dem Objektiv so, dass er die Kulisse scharf auf die Mattscheibe bekam.
Inzwischen waren auch die zwei adeligen Familien eingetroffen. Sie waren zusammen mit Ella und Auguste und den drei jüngeren Brüdern im Speisezimmer mit einem reichlichen Frühstück bei guter Laune gehalten worden. Endlich konnte die ganze Gesellschaft herbeigerufen werden. Ohne Begeisterung und etwas missmutig zogen alle in den Saal, wo sie von Amalie nach standesgemässen Regeln in der vorbereiteten Kulisse aufgestellt wurden. Heftige Auseinandersetzungen mit dem Fotografen folgten, der seine künstlerischen Anliegen verraten sah. Amalie eilte zu den Töchtern, um noch den Faltenwurf der Kleider oder deren Handstellungen zu korrigieren. Den drei jungen Burschen ordnete sie persönlich die widerspenstigen Haarschöpfe.
Besonders Amalies adelige Nachkommenschaft, Enkel Hans, der von Radecki in der Familie, war ganz im Zentrum des Gruppenbildes. Hanna hielt ihren Sprössling auf den Knien. Rechts oben, an die kunstvolle Kulissensäule gestützt, stellte Amalie die drittgeborene Marie mit ihrem adeligen Georg Baron von Nolcken. Davor setzte sie die ledige Auguste. In einem Punkt konnte sich Amalie nicht durchsetzen. Das schwarze Schaf der Familie, die widerspenstige Ella, wagte es, sich der Mutter zu widersetzen und nicht in einem schwarzen Sammetkleid zum Fototermin zu erscheinen. Es sei viel zu warm dafür und zudem keine Abdankung, meinte sie schnippisch und erschien dem Vater zulieb im festlichen, weissen Sommerkleid mit den Spitzenrändern. Selbstbewusst nahm sie ihreng passenden Platz ein und würdigte auch nach mehreren Aufforderungen die Mutter und den Fotografen mit keinem Blick. Nein, in die Kamera schaue sie nicht. Wo es aus Sicht der Komposition ansprechend schien, durfte der Fotograf noch ihre drei jüngeren Söhne platzieren. Theophil Alexander Eduard, Jeannot Carl Richard und Eugen Reinhold Constantin, alle standesgemäss mit drei Taufnamen versehen, waren jung, gescheit und kräftig und geeignet als Nachfolger für den ritterlichen Gutsbetrieb Eichenhof oder andere Betriebe in der Umgebung. Die Pacht des nahen Gutes Alt Kroppenhof, wo der Glarner Auswanderer Balthasar Voegeli seine Karriere begonnen hatte und vollendete, hatte dieser seinem ersten Schwiegersohn vermittelt. Die Pacht für die dazugehörige Mühle hatte der zweite erhalten. Mit andern Worten, die Familie hatte die umliegenden Betriebe fest im Griff. Der Baron besass in der Nähe noch weitere Rittergüter. Amalie träumte vor sich hin, dass die jungen Söhne weitere Güter der Adelsfamilie pachten könnten.
Da verschwand der Fotograf ein letztes Mal unter seinem Tuch, schob die grosse Kassette mit der Glasplatte in den Apparat, zog die Schutzplatte heraus und ergriff den Auslöserdraht. Alle Personen erstarrten in der Kulisse. Mit einem Zündholz liess er das Häufchen Magnesium verpuffen. Der Lichtblitz erhellte den ganzen Saal. Als sich nach einigen Minuten der Pulverdampf verzogen hatte, wiederholte er zur Sicherheit das Prozedere. Der Fotograf meinte am Ende zur Besänftigung der Mutter, es gäbe auf dem Bild eine ansprechende Balance zwischen der hellen und der dunklen Seite. Er werde das beim Entwickeln der Platte noch herausarbeiten. Er konnte ja nicht ahnen, wie richtig er mit dieser Aussage lag. Stolz betrachtete Amalie nochmals die von ihr komponierte Gruppe. Dieser Moment war es Wert, festgehalten werden. Alle diese prächtigen Töchter und Söhne waren ihr Werk. Das erstrebenswerte Lebensziel war erreicht. Sie war glücklich.
Zehn Tage später fand das fünfzigste Geburtstagsfest für ihren Mann statt. Nur einen Tag davor war er zurückgekommen. Amalie war eine tüchtige Frau, alles war vorbereitet, und es ging nun darum, allen ihren Erfolg vorzuführen. Triumphierend sass sie neben ihrem Gatten oben an der grossen, festlich dekorierten Tafel. Hundert Gäste schauten erwartungsvoll zu ihr, als sie sich mit ihrem massigen Körper mühsam erhob und mit überlauter Stimme die Gäste begrüsste. Nach einigen einleitenden Worten überreichte sie ihrem Mann umständlich, mit lautem Lachen begleitet, das Überraschungsgeschenk, das Familienbild mit Hanna und dem adligen Enkel Hans im Zentrum. Aber das im Bild dargestellte Glück war nie Wirklichkeit gewesen. Es war ihr letztes Fest auf dem Gut Eichenhof.
Sechzehn Jahre später, 1904, sitzt Hanna traurig in ihrer Wohnung in Riga. Schon wieder ein Brief von Mutter Amalie von der Poststation Gulben. Das können nur schlechte Nachrichten sein. Sie liest, dass die Eltern einen Umzug nach Riga planen. Sie würden dort in einer grossen Wohnung eine Pension führen. Welch ein Abstieg in kurzer Zeit.
Mich wundert nicht, denkt Hanna, dass der Umsturz nun auch jene Gebiete im Norden erfasst hat. Schon früher hatte ich auch das unausweichliche Ende unseres Pachtgutes Eichenhof kommen sehen. Nur Amalie wollte das nicht wahrhaben. Die Eltern mussten 1890, keine zwei Jahre nach dem Fest, fast fluchtartig den Eichenhof verlassen. Sie übernahmen die Poststation Gulben mit Gastwirtschaft und kleinem landwirtschaftlichen Betrieb. Aber auch dort ging es nicht ohne lettisches Personal. Seit Jahren schon hatte sich die in der lettischen Bauernschaft schwelende revolutionäre Bewegung wie loderndes Buschfeuer immer mehr ausgebreitet. Die Standesunterschiede zwischen den durch die Könige mit Lehen versehenen adeligen Familien, der herrschenden Schicht der Deutschbalten und der unterdrückten, besitzlosen Schicht der lettischen Bauern wurden immer krasser. Seit der Zar die Leibeigenschaft aufgehoben hatte, wurden die Bauern wohl nicht reicher, doch es stärkte ihr Selbstbewusstsein. Sie wurden immer zugänglicher für kommunistische Ideen, die nun auch die russischen Ostseeprovinzen erfassten. Die Erträge der Rittergüter gingen zurück. Die adeligen Familien steigerten die Pachtzinsen, um die Höhe ihrer Einkünfte zu sichern. Die Lage für die Pächter wurde immer unerträglicher, auch wenn Amalie mit eiserner Hand weiterregierte.
Wohl zur Erinnerung an das Gut Eichenhof, dachte Hanna, hat mir Amalie wohlmeinend, aber nicht gerade feinfühlig, je eine Kopie des Familienbildes und der Geburtstagsgesellschaft im Festsaal beigelegt. Welch schreckliche Erinnerungen wecken mir diese Bilder.
Am Geburtstagsfest hatte mich der grossspurige Auftritt meiner Mutter peinlich berührt. Im selben Saal war ich drei Jahre vorher verzweifelt an meinem eigenen Hochzeitsfest am Tisch gesessen, neben mir mein Bräutigam Arthur. Es wird mir heute noch übel, wenn ich mich zurückerinnere. Nach dem Hochzeitsmahl packte mich ein unbändiges Grauen vor diesem Mann. Mit meinem weissen Hochzeitskleid floh ich zur Türe hinaus in den nahen Wald. Wo hätte ich mich sonst verstecken können. Amalie stürzte mir nach, stöberte mich auf, prügelte mich mit ihren Fäusten und brachte mich direkt ins Schlafgemach zu meinem Bräutigam. Damit war mein Widerstand gebrochen. Im ersten Jahr wohnten wir bei den Eltern von Radecki, aber wir ertrugen uns schlecht. Als mein Sohn Hans zur Welt kam, zogen wir aus. Arthur war ein schwächlicher, kranker Mensch, der nie einen Beitrag an den Haushalt leistete. Ich mietete am Strand nahe der Stadt Riga eine der vielen Sommervillen und richtete eine Pension ein. Ich hatte bald viele treue Dauergäste, aber auch viel Arbeit und war schrecklich arm. Als kurz darauf im Winter mein Mädchen Irmgard zur Welt kam, hatte ich kein Geld, um Holz für die Heizung zu kaufen. Arthur floh zu seinen Eltern. Ich war zu stolz, meine Eltern oder Geschwister um Unterstützung zu bitten. Niemand ahnte, wie schlecht es mir ging. Mein Mädchen starb an einer Lungenentzündung.
Kurz nach der Hochzeit meiner Schwester Marie mit Baron von Nolcken erhärtete sich der Verdacht, dass er an Verfolgungswahn leide, denn er beharrte auf seiner irren Meinung, nur mit einem langen, scharfen Messer unter dem Kopfkissen schlafen zu können.
Meine liebe Schwester Ella hatte mehr Glück. Sie begegnete in Riga dem lebenslustigen Coiffeurmeister Emil Beck, den sie 1893 heiratete. Auch sie mietete am Strand von Riga ein Sommerhaus, aber nur um es aus Freude als Pension zu betreiben. Nebenbei hatte sie noch einen lieben Freund, den sie zärtlich Schatzingka Römling nannte. Der kam sie jeweils in der Pension besuchen. Das störte den toleranten Coiffeurmeister überhaupt nicht. Auch er trug den Kosenamen Schatzingka und meinte, Ella hat ein sehr weites Herz!
Hanna legt das Bild zur Seite. Das Glück von Amalie war eine Lüge – und mein Unglück.
Anhang
Amalie Voegeli-Drescher (III/13 zum Autor)
* 11.04.1840 in Livland / † 02.11.1910 im Strandhaus ihrer Tochter Ella Beck-Voegeli in Bilderlingshof bei Riga,
Ehemann Johann Balthasar Voegeli, * 28.06.1838 auf Gut Alt Kroppenhof, Livland, Bürger von Rüti GL / † 12.02.1921 in Braunwald GL
Tochter Johanna Amalie von Radecki-Voegeli, * 8.04.1865 auf Gut Eichenhof / † 11.05.1951 in Braunwald GL
Quellen
Alle mit Namen genannten Personen haben existiert. Die Lebensdaten stammen aus dem Genialogiewerk (Vide Vögeli Nr. 254) im Landesarchiv des Kantons Glarus. Die Lebensumstände und die Charakteren der Personen stammen aus Briefen und ausführlichen Aufzeichnungen von Johanna Feldmann-Voegeli, die im umfangreichen Nachlass vorhanden sind. Alle Unterlagen sind in Familienbesitz.