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Das letzte Wort

Draussen ist es gegen Mitternacht sehr kalt geworden. In der Genossenschafts-siedlung wird über Nacht im Januar die Temperatur der Heizkörper abgesenkt. Die Stube ist warm geblieben. Vielleicht ist es die Wärme der vielen Kerzen, die ich seit dem frühen Abend im Wohnraum angesteckt habe. Mutter dämmert auf ihrem Bett vor sich hin. Vor vielen Jahren, kurz nach dem Tod meines Vaters, hatte ich ihr ein Grammofon und viele schöne Platten geschenkt. Alleine hatte sie nie Musik hören wollen, nur wenn jemand bei ihr war. Sie liebt besonders die Choräle von Bach. Ich finde die Platten zuunterst in der Kommode. Da haben sie seit Monaten unberührt gelegen. Ich setze das altmodische Gerät in Betrieb und lege den ersten Choral auf. Mutter öffnet nur kurz die Augen und sucht nach der ungewohnten Musik. Ich sitze auf der Couch und fühle eine grosse Müdigkeit in mir aufsteigen. Beim zurücklehnen entführen mich diese Klänge in meine eigene Welt. Die Geschehnisse der vergangenen Jahre und der letzten drei Wochen beschäftigen mich.

Vor vierzig Jahren hatte ich das letzte Mal hier im Elternhaus übernachtet. Das war in der Nacht vor dem Sylvester 1962, als meine Frau und ich vor unserer Abreise nach Paris hier schliefen. Das Zügelgut war schon unterwegs. Auf der Strasse stand unser kleines Auto mit dem Reisegepäck bereit. Unternehmungslustig fuhren wir am nächsten Morgen los. In Zürich war Seegfrörni. Die Strassen blieben auf der ganzen Strecke vereist. Das hielt uns nicht zurück. Siebenundzwanzig Jahre lang, seit meiner Geburt hatte ich hier gewohnt. Nun zügelte ich mit meiner jungen Frau ins Ausland.
1932 waren meine Eltern in dieses Reihenhaus eingezogen.
Bald hielten sie jeden Samstagabend "open House". Da kamen Journalisten, Unternehmer, Schriftsteller, Leute die meinen Vater als Verleger und Schriftsteller kannten. Sie alle standen unter dem Druck der Ereignisse jener bewegten Zeit und brauchten diesen Ort um sich auszutauschen und sich gemeinsam gegen die drohende braune Wolke aus dem Norden zu wehren. Alle Männer rauchten, Zigaretten, Stumpen, Zigarren. Gab es wieder ein Sieg der Alliierten, oder mussten sich die Hitlertruppen irgendwo zurückziehen, wurde das mit einem Glas Armanjac gefeiert. Es gab auch Abende, da lasteten auf der Runde schwere Bedenken. Konnte die Schweiz ihre Unabhängigkeit bewahren oder würden wir doch noch in den Weltkonflikt hineingezogen? Wir drei Kinder wurden von diesem Kreis nicht ausgeschlossen, jeweils im Hintergrund sitzend, bekamen wir viel mehr vom Krieggeschehen, der Landes- und Weltpolitik mit, als wir ahnten. Morgens leerte Mutter die randvollen Aschenbecher.
Vor neunzehn Jahren starb mein Vater. Meine Mutter blieb alleine in diesem grossen Haus. Noch meine ich heute in der Wohnstube den Geruch von abgestandenem Rauch zu riechen.
Seit dem Tod meines Vaters war es im Haus ruhig geworden. Zu den samstäglichen Treffen kamen fast nur noch Witwen. Meine Mutter zog sich immer wieder für viele Wochen in ihr Ferienhaus im Tessin zurück, wo sie vergebens versuchte, auf dem grossen Grundstück die wuchernde Vegetation unter Kontrolle zu halten. Bald meldeten sich bei ihr Altersbeschwerden, die dazu führten, dass sie nicht mehr ins Tessin konnte und auch hier das Haus nicht mehr ohne Hilfe verlassen konnte. Sie sass immer im gleichen Fauteuil neben dem Bett, das wir aus ihrem Schlafzimmer in die Wohnstube hinunter gezügelt hatten. Die Toilette war im Erdgeschoss und das Badezimmer mit der Badewanne im Obergeschoss. Die steile Treppe konnte sie nicht mehr ohne Pflegerin bewältigen. Da sie energisch darauf beharrte, nachts alleine im Haus zu sein, blieb keine andere Lösung. Wir Geschwister und die Enkel hatten eine gute Beziehung zu ihr, doch alle waren sehr beschäftigt. Nach meiner Pensionierung fand ich mehr Zeit für sie und wir kamen uns wieder näher. Immer öfter sprachen wir über den Sinn des Lebens und wie sich wohl ihr Ende ergeben würde.
Unter Stapeln von Illustrierten auf ihrem Lesetischchen entdeckte ich einige Wochen vor Weihnachten ein altes, in brüchiges Leder gebundenes Fotoalbum mit Bogen aus dunkelbraunem Halbkarton. Es hatte schon lange dort gelegen. Die Texte der Bildlegenden waren je nach Motiv lettisch, deutsch, russisch, englisch oder französisch verfasst. Vorne drin waren Fotos von vor dem ersten Weltkrieg, ja gar von noch früheren Zeiten.
Meine Grossmutter Olga, eine Deutschbaltin, hatte in unserer Kindheit einiges von ihrem abenteuerlichen Leben im Baltikum und dem fernen Osten berichtet, aber wir Kinder hatten keine Ahnung wo das war. Wir erkannten keine Zusammenhänge. Ich sehe noch heute meine Mutter vor mir, mit Russischen Märchenbüchern auf den Knien, um uns daraus zu erzählen. Für uns blieben das Geschichten.
In diesem Fotoalbum blätterte ich nun mit meiner Mutter. Da begannen ihre Augen nochmals zu leuchten. Krankheit und Schwäche waren vergessen. Sie liebte es noch immer, von ihren Jugenderinnerungen in Russland und China zu erzählen. Auf der ersten Seite des Albums posierte auf einem grossen Sessel ein ernst dreinblickender Mann mit schwarzem Bart. "Das ist Balthasar Voegeli der Stammvater unserer Familie Voegeli", begann sie. "Er war im Hungerjahr 1817 sechzehnjährig als Käser aus der kleinen Glarner Gemeinde Rüti ins Baltikum ausgewandert um dort sein Glück zu versuchen. In wenigen Jahren gewann er in der Nähe von Riga als Käser das Vertrauen des Rittergutbesitzers des Schlosses Kroppenhof, ein angesehener Baron, dessen Gutshof, den Alt Kroppenhof er verwalten durfte. Sein Sohn Johann Balthasar Voegeli, mein Grossvater", betonte sie, "war etwas weniger tüchtig, aber er heiratete die energische Deutschbaltin Amalie Drescher aus der Nähe, die ihm half für denselben Baron das benachbarte Gut den Eichenhof zu verwalten." Mutter richtete sich in ihrem Stuhl auf, blätterte um und wies auf ein grosses Gruppenbild: "Das waren meine Baltischen Vorfahren", erzählte sie begeistert und fuhr fort: "Das sind alle meine Tanten und Onkel von Riga. Das Bild entstand als Überraschungs-geschenk meiner Grossmutter Amalie für meinen Grossvater, zum Anlass seines 50 igsten Geburtstagsfestes 1888. Meine tüchtige Grossmutter Amalie hatte wenige Jahre zuvor im Gut Eichenhof ein Hausfest veranstaltet. Aus dem benachbarten Schloss Kroppenhof wurden die Söhne des Schlossherrn, zusammen mit weiteren adeligen, jungen Freunden eingeladen. Da war Feuer im Dach", sagte Mutter lachend. "Die zweitälteste der vier Töchter, die noch nicht zwanzigjährige, charmante Ella, hatte den Teufel im Leib und verdrehte mit ihrem Witz und Schalk den jungen adeligen Burschen den Kopf. Sie liess sie zappeln und wand sich mit Geschick aus allen Anbändelungsversuchen heraus. Arthur, der adelige Herr von Radecki, war von ihr entzückt. Als er einen Heiratsantrag machte, lachte sie ihn aus und verschwand für einige Monate zu einer verwandten Familie in Russland. Dies brachte meine Grossmutter Amalie fast um den Verstand. Ein Antrag eines adligen Sprosses, eine Chance für den Aufstieg der Familie in adlige Kreise, von einer ihrer Töchter lächelnd abzulehnen, war unerhört. Sie bangte um den Ruf der Familie. So wurde ihre älteste, ruhige Tochter Hanna als Opfer auserwählt, diesen adeligen Arthur zu ehelichen. Tief traurig willigte sie ein. Aber Hochzeiten sind in unserer Familie ansteckend", betonte meine Mutter und fuhr fort: "Als Brautführer hatte Arthur seinen adeligen Freund, Baron von Nolcken, mitgebracht. Zur grossen Freude und Aufregung meiner Grossmutter Amalie verliebte sich Marie, ihre zweitjüngste Tochter, in diesen adeligen Spross. Auch er entflammte. Das Problem war, Marie zählte noch keine sechzehn Jahre. Eine solche Beziehung, so erwünscht sie für meine Grossmutter Amalie blieb, liess sich schwer in schicklichem Rahmen halten. Wenige Tage nach dem für bürgerliche Jungfrauen tolerierbaren Alter von 18 Jahren wurde geheiratet. Nun hatte meine Grossmutter auch noch eine Baronin von Nolcken in der Familie. Mindestens so wichtig wie die zwei adeligen Ehemänner war für Grossmutter Amalie die adelige Nachkommenschaft, der Enkel Hans von Radecki", und zeigte auf den kleinen Knaben im Zentrum des Gruppenbildes. "Hier vorne im Bild, stehen noch die drei jüngeren Söhne von Amalie, darunter mein Vater", erzählte meine Mutter stolz weiter: "Alle wären als Nachfolger für den ritterlichen Gutsbetrieb Eichenhof oder andere seiner Betriebe in der Umgebung geeignet gewesen. Aber es kam anders. Das Glück meiner Grossmutter Amalie dauerte nicht lang". Sagte meine Mutter traurig und lehnte sich müde in ihren Stuhl zurück.
"Bereits zwei Jahre nach diesem Fest, 1890 mussten sie den Eichenhof wegen Bauernunruhen fluchtartig verlassen. Sie übernahmen eine Poststation mit Gastwirtschaft und kleinem landwirtschaftlichen Betrieb. Aber die seit Jahren in der lettischen Bauernschaft schwelende revolutionäre Bewegung breitete sich wie ein loderndes Buschfeuer aus. Auch auf der Poststation ging es nicht ohne lettisches Personal. Ein Rückzug des alternden Ehepaares nach Riga war 1905 darum unvermeidlich," erklärte meine Mutter". "Aber wie kam denn das, dass die drei Voegeliburschen, die drei Günthermädchen heirateten?" Fragte ich. Meine Mutter erwiderte schelmisch: "Das kam früher im Baltikum noch öfters vor und zudem, in unserer Familie sind Hochzeiten ansteckend"! Und fuhr fort.
"Zwischen der Familie der Eltern meiner Mutter Olga von Günther und jener der Familie der Eltern meines Vaters Johann Voegeli bestand seit Jahren eine enge Freundschaft", betonte meine Mutter, "weil die ehemalige Hauslehrerin unserer Familie Voegeli, dem Herrn des Hauses von Günther, zu dem sie schon immer eine besondere Zuneigung hatte, tatkräftig eingesprungen war, als ihm seine geliebte junge Frau plötzlich starb und vier kleine Mädchen, als jüngstes meine Mutter Olga, zurückliess. Es blieb aber nicht bei der Hilfe der Hauslehrerin, sie erklärte ihm ihre Liebe und wollte heiraten. Schon früher fanden im Winter bei Voegelis in Riga und bei von Günthers in Mitau Hausfeste statt. Im Sommer besuchte man gemeinsam die nahe Ostsee, wo ein Sommerhaus gemietet wurde. Die drei Töchter Günther und die drei jungen, wenig älteren Burschen Voegeli tollten zusammen am Strand und in den lichten Wäldern herum und mochten sich sehr. So heirateten denn um die Jahrhundertwende die drei Burschen Voegeli die drei Mädchen Günther.
Kurz darauf zog mein Vater Johann Voegeli mit meiner jungen Mutter Olga nach Wladiwostok, wo sich mein Vater erfolgreich als Schiffsmakler betätigte und ein schönes Haus kaufte. Von dort sahen wir alle die grossen Dampfschiffe vor Anker liegen mit deren Ladungen mein Vater handelte. Als drittes von fünf Kindern kam ich 1910 auf die Welt. Bis gegen Ende des Weltkrieges hatten wir ein schönes Leben. Wir hatten zwei grosse Hunde und verbrachten den ganzen Sommer am Meer in einer Datscha. Die Winter waren klirrend kalt, da machten wir mit Pferdeschlitten durch die tief verschneite Landschaft, eingehüllt in dicke Schafspelze, Besuche bei befreundeten Familien. Unterwegs erzählte unser Vater schreckliche Geschichten über angreifende Wolfsrudel, als er von Moskau nach Wladiwostok reisen musste noch bevor die Eisenbahn gebaut war.
Wir hatten in unserem Haushalt viel Personal, darunter einen chinesischen Koch, den ich heimlich in der Küche besuchte und der mir viele Chinesische Worte und einige Kochtricks beibrachte. Noch kurz vor dem Krieg reiste unsere Familie mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Riga um unseren Grossvater und alle unseren alten Tanten zu besuchen, die meine Mutter seit ihrer Heirat nicht mehr gesehen hatten. Tag- und nächtelang rollten wir mit dem Zug durch die unendlichen Steppen von Russland. Das war alles unsere Heimat". Nun verdüsterte sich die Miene meiner Mutter. Fast flüsternd in bedrückter Stimmung erzählte sie weiter.
"Doch während des Ersten Weltkrieges durfte man plötzlich kein Deutsch mehr sondern nur noch Russisch und Englisch sprechen. Die Russische Revolution erfasste nach 1918 auch unser Gebiet. Die Lage wurde immer schwieriger. Aber unsere Onkel und Tanten im Baltikum hatten noch viel mehr zu leiden. Drei Tanten flohen darauf 1919 mit einem Rot-Kreuzzug in die Schweiz. Als Auslandschweizer wurden sie von der Gemeindebehörde ihres Heimatortes Rüti auf der Alp Braunwald in einer alten Alphütte mit drei Räumen untergebracht. Sie hatte noch kurz vorher als Alpschulhaus gedient. Tüchtig, wie diese baltischen Frauen waren, richteten sie in der Hütte und unter einem improvisierten Vordach eine Kaffeestube mit baltischen Backspezialitäten ein und sparten in vier Jahren so viel Geld, "sagte sie voller Stolz, " dass sie damit nebenan die "Pension Sunnahüüsli" bauen konnten.
Auch unsere Familie musste 1919 von Wladiwostok nach Tschifu in China fliehen. Mein Vater versuchte sein Geschäft weiterzuführen. Hier in diesem eingeschossigen chinesischen Haus am Strand haben wir gewohnt", schwärmte meine Mutter, auf ein kleines Bild zeigend. "Es war zauberhaft in dieser chinesischen Stadt. Ich durfte eine Französische Klosterschule besuchen und lernte hier von unserem Koch immer mehr Chinesisch. Doch bereits am 1. Januar 1923 musste unsere Familie wegen Unruhen gegen die Kolonialisten in die Schweiz fliehen. Die Reise mit dem Schiff von Shanghai nach Marseille war wundervoll, wir wären am liebsten auf dem Schiff geblieben. Im Februar trafen wir in Braunwald ein, wo wir im hohen Schnee von unseren alten, baltischen Tanten empfangen wurden. Die Winterlandschaft und die trockene Kälte erinnerten uns sehr an das geliebte Sibirien. Unserer Familie wurde gleich neben den alten Tanten eine kleine Alphütte zugewiesen. Es dauerte einige Tage bis wir die Hütte mit dem kleinen Ofen aufgewärmt hatten. Ich durfte mit meinen Geschwistern in die Gesamtschule, gleich neben unserer Alphütte. Ich verstand vorerst den Dialekt der anderen Schüler kaum, dafür sprach ich fliessend Hochdeutsch und Russisch und konnte mich gut in Englisch und Französisch ausdrücken. Nur mein bisschen Chinesisch nützte mir nichts", meinte sie lachend. "Unser Lehrer war wunderbar, er verstand es, uns in wenigen Wochen in die Schülerschaft zu integrieren. Mein Vater versuchte inzwischen in Tschifu von seinem Vermögen noch zu retten was er konnte und kam einige Monate später in die Schweiz zurück. In Schlieren kauften meine Eltern mit ihren knappen Mitteln ein kleines Haus am Waldrand und begannen eine Hühnerfarm aufzubauen. Dort wohnten wir, bis alle fünf Geschwister aus der Schule waren".
Das dicke Fotoalbum glitt meiner Mutter aus den Händen. Das Abendlicht war rasch schwächer geworden. Sie sank müde in den Sessel zurück. Nur wenige Bilder hatte sie mir erläutert, noch für viele fehlten mir die Geschichten. Ich mochte die Stubenlampe nicht anzünden. "Es passierte so viel in meinem Leben", sagte sie im Halbdunkel ganz leise, "und mein liebes, altes Russland ist so fern. Den Zaren und seine Familie verehrten wir sehr, aber all das ist weit weggerückt". Dann hellte sich ihre Miene etwas auf und sie flüsterte:
"Doch welches Glück, dass ich bald deinen Vater kennen lernen durfte. Wir hatten ein gutes Leben zusammen, aber nun mag ich nicht mehr. Ich möchte gehen, aber wie"?
Aus der in glücklichen Erinnerungen schwelgenden Frau wurde plötzlich eine ganz kleine, ruhige empfindsame Person. Danach sprachen wir noch lange über den Tod der für uns alle sicher ist und dass wir beide keine Angst davor empfinden. Es gab eine sichere Möglichkeit, waren wir uns einig, man hört auf zu essen und zu trinken. "Das ist einfach, wenn man mich nur lässt. Ich will keinesfalls in ein Spital oder ein Krankenheim eingeliefert werden, auch wenn ich ohnmächtig werde. Ich will nicht künstlich ernährt werden. Du musst mir das versprechen", sagte sie entschieden zu mir.
Das war vor Weihnachten. Nachdenklich ging ich nach Hause. Die drei liebenswürdigen bosnischen Frauen, die sich seit Monaten völlig selbständig bei der Pflege der Mutter ablösten, wurden immer bedrückter. Sie bestürmten mich öfter, es sei nicht mehr zu verantworten unsere Mutter über Nacht alleine zu lassen. Die Pflegerinnen fürchteten sich so davor, meine Mutter eines Morgens tot auf dem Boden vorzufinden. Dazu meinte meine Mutter nur: "Ob ich nun im Bett sterbe oder auf dem Boden, alles das lieber als im Spital an den Schläuchen". Es war schwierig die Pflegerinnen zu beruhigen um den Wunsch meiner Mutter daheim zu sterben umzusetzen. Sie sprach immer weniger, ass und trank fast nichts mehr. Die Pflegerinnen wurden immer trauriger. Wenn ich meine Mutter in der Zwischenzeit besuchte, sprach sie kaum mehr und schaute nur aus schmalen Augenschlitzen zu mir hoch. Hin und wieder schien mir ein kurzes, komplizenhaftes, schelmisches Lächeln über ihr Gesicht zu huschen.

Nach Neujahr rief mir am Sonntagabend eine Pflegerin spät abends an, Mutter habe grosse Schmerzen, ob sie nun den Notarzt und den Krankenwagen rufen solle. Ich bestellte den Notarzt und eilte hin. Mutter schaute mir nur stumm in die Augen. Der Notarzt klebte ihr ein Morphiumpflaster auf den Arm und bat uns ihren Mund hin und wieder mit einem feuchten Tuch abzuwischen. Mehr könne er nicht tun, wenn meine Mutter nicht eingeliefert werden wolle. Es war schwierig die Pflegerin zu überzeugen, nach Hause zu gehen.
Den ganzen folgenden Tag war ich unruhig. Am Abend fasste ich den Entschluss: "Heute Nacht werde ich bei Mutter bleiben" und fuhr hin.

Die mächtigen Orgelklänge der letzten Choralstrophe der zweiten Plattenseite bringen mich aus meinen Gedanken zurück in die elterliche Wohnstube. Meine Mutter liegt bequem auf dem Rücken, zuckt aber leicht zusammen als der letzte Akkord verklingt. Die Kerzen sind kleiner geworden. Viel mehr noch als die Choräle von Bach bedeuten Mutter die Platten mit den russisch-orthodoxen Mönchsgesängen. Die dunklen, tiefen Bassstimmen der Männer lassen auch in mir ihre Vergangenheit aufschimmern. In Gedanken versunken lege ich mich auf die Couch. Die Bilder des Fotoalbums erscheinen vor meinen Augen, für viele Bilder fehlen mir noch ihre Kommentare. Alle diese nicht erzählten Geschichten wird sie nun mitnehmen, sie ist die letzte der Familie die noch Russland erlebt hat.
Kurz danach schrecke ich auf. Die erste Plattenseite ist schon zu Ende. Ich gehe zu ihr hinüber und frage, welche Platte sie noch hören möchte. Vergebens. Mutter schnauft laut und unregelmässig. Ihr Atem wird schwächer, dann schlägt sie kurz die Augen auf, lächelte kaum merklich und formt mit ihren blassen Lippen ganz leise und undeutlich ein letztes russisches Wort, ich verstehe es nicht.
Ich wende die Platte und lege mich wieder kurz hin. Als der nächste Chor ausklingt, erhebe ich mich und kann nur noch feststellen, dass meine Mutter aufgehört hat zu atmen. Ihre Hände sind noch ganz warm, aber ohne jede Kraft. Ich öffne die Gartentüre, die Winterluft strömt herein und lässt die Kerzenlichter flackern. So kalt wie in Wladiwostok ist sie nicht. Sicher ist ihre Seele jetzt auf dem Weg in ihre geliebte russische Heimat.